Ablenkung im Straßenverkehr
Verminderung der Aufmerksamkeit
Obwohl zweifelsfrei klar ist, dass Ablenkung eine Unfallursache ist, liegt noch Vieles im Unklaren. Anders als beispielsweise die überhöhte Geschwindigkeit, hinterlässt die Ablenkung kein typisches Unfallbild. Ganz im Gegenteil, Ablenkung kann in zweiter Ordnung hinter vielen vermeintlichen Unfallursachen stehen. Die Unfallforschung steht mit ihren Untersuchungen zur Ablenkungsproblematik noch ganz am Anfang. Bei den ersten Umfragen der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) im Jahr 2012 gaben 4 von 5 der befragten Autofahrer an, dass sie in der vergangenen halben Stunde zwei bis drei fahrfremde Tätigkeiten verrichtet hätten.
Smartphones sind die stärksten ablenkenden Geräte im Straßenverkehr
Nicht jede Tätigkeit lenkt Autofahrer jedoch gleichermaßen ab. Laut einer Untersuchung der Unfallforschung der Versicherer (UDV) ist das Schreiben von Textnachrichten auf dem Smartphone eine der am stärksten ablenkenden Tätigkeiten, wohingegen die Bedienung des Bordcomputers erheblich weniger Aufmerksamkeit fordert. Dies zeigt laut UDV, dass die Bemühungen der Fahrzeugindustrie hinsichtlich einer benutzerfreundlichen Gestaltung der Mensch-Maschine-Schnittstelle, erfolgreich sind.
Wissenschaft und Forschung
Derzeit befindet sich die wissenschaftliche Forschung noch am Anfang. Die Auswirkung von ablenkenden Tätigkeiten lässt sich mittels experimenteller Studien recht leicht erfassen. Weitaus schwieriger ist die Erfassung der Quantität des Phänomens. Erste Untersuchungen zeigen jedoch, dass es sich um ein weit verbreitetes Phänomen handelt. Die davon ausgehende Gefahr wird dagegen von Vielen unterschätzt. Laut des Lehrstuhls für Ingenieur- und Verkehrspsychologie an der TU Braunschweig, sind drei Formen der Ablenkung bei der Verkehrsteilnahme zu unterscheiden. Jede Ablenkungsform hat seine charakteristischen Merkmale.
Visuelle Ablenkung
Der Blick ist für den Zeitraum der Ablenkung nicht auf die Straße gerichtet. Ursache für die visuelle Ablenkung können bewusste Handlungen ebenso sein wie Ereignisse, die wir mit einem unserer Sinne wahrnehmen und die uns dazu verleiten, den Blick dorthin zu wenden.
Mentale Ablenkung
Bei der mentalen Ablenkung ist der Blick auf die Straße gerichtet. Die Gefahrensituation wird zwar gesehen, aber mental nicht erkannt. Ursächlich können beispielsweise abschweifende Gedanken, starke Emotionen oder ein Telefonat sein.
Motorische Ablenkung
Sowohl der Blick als auch die Konzentration sind auf die Straße gerichtet. Aufgrund der motorischen Ablenkung ist es dem Fahrer jedoch nicht möglich, auf das Fahrgeschehen angemessen einzuwirken. Ursächlich kann beispielsweise das Essen oder Trinken während der Fahrt sein. In der Regel treten mehrere Ablenkungsformen gleichzeitig auf. Das Suchen einer CD im Handschuhfach beeinträchtigt den Fahrer beispielsweise visuell, mental und motorisch.
Wahrnehmung und Multitasking
Jede Art der Fortbewegung erfordert von unserem Gehirn die Verarbeitung zahlreicher Informationen. Die meisten Informationen liefert uns dabei das Auge, gefolgt vom Gehör. Können nicht alle Informationen gleichzeitig verarbeitet werden, geraten wir in Stress. Das Gehirn trifft eine Auswahl der vermeintlich wichtigsten Informationen. Trotz der selektiven Wahrnehmung glauben wir, alles im Griff zu haben. Die Routine suggeriert uns, dass alles wie erwartet abläuft, auch wenn wir mal kurz unaufmerksam oder abgelenkt sind. Genau dieser Moment kann es jedoch sein, in dem ein unvorhergesehenes Ereignis eintritt.
Multitasking gilt als Inbegriff der Effizienz und Leistungsfähigkeit. Aktuelle Forschungsergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Demnach ist das menschliche Gehirn nicht in der Lage, mehr als zwei Aufgaben parallel zu verarbeiten. Stattdessen wechselt das Gehirn rasend schnell zwischen den zu bewältigenden Aufgaben hin und her. Das Ergebnis ist eine Verminderung der Leistungsfähigkeit. Gleichzeitig erhöht sich der Stresspegel. Je routinierter der Autofahrer am Verkehr teilnehmen, desto weniger bemerkt er, wie viele Aufgaben das Gehirn unbemerkt erledigt.
Gedanken und Emotionen
Beim Thema Ablenkung denken die meisten sofort an Smartphones. Doch die wohl häufigste Art der Ablenkung sind unsere Gedanken. Routinierte Abläufe verleiten dazu, mit den Gedanken abzuschweifen. So kann der Blick auf die Gefahrensituation gerichtet sein, ohne dass die tatsächliche Gefahr wahrgenommen wird. Starke Emotionen verstärken diesen Effekt, unabhängig ob diese positiv oder negativ sind. Es ist daher nicht verwunderlich, dass statistisch betrachtet freitags das Unfallrisiko am Größten ist. Viele Pendler wollen schnell nach Hause und sind in Gedanken bereits im Wochenende.
Smartphones und Handys.
Eine US-Studie ergab, dass das Schreiben einer Textnachricht während des Autofahrens die Unfallwahrscheinlichkeit um das 23-fache erhöht. Damit zählt das Schreiben einer Textnachricht zu den gefährlichsten Ablenkungsarten. Telefonieren erhöht das Unfallrisiko immerhin noch um das 6-fache. Umstritten ist, wie groß der Unterschied zwischen dem Telefonieren mit und ohne Freisprecheinrichtung ist.
Sicher ist allerdings: Wer auf das Telefonieren während der Fahrt verzichtet, fährt am Sichersten. Die Straßenverkehrsordnung verbietet daher bereits den Griff zum Mobiltelefon unabhängig davon, ob nur auf die Uhr geschaut oder eine Nachricht gelesen wird. Dies gilt übrigens auch, wenn das Auto mit laufendem Motor steht. Ein kurzer Blick auf das Handy vor der roten Ampel ist mithin ebenfalls verboten. Erst wenn der Motor abgestellt ist, darf das Handy in die Hand genommen und genutzt werden.
Das Nutzen des Mobiltelefons betrifft potentiell alle Arten der Fortbewegung. Beim Fahrradfahren verhält es sich ähnlich wie beim Auto- oder Motorradfahren. Das Telefonieren, egal in welcher Form, lenkt uns mental ab. Da wir den Gesprächspartner nicht sehen können, versucht unser Gehirn, die fehlenden Bilder durch eigene Gedanken zu ersetzen. Wird darüber hinaus keine Freisprecheinrichtung genutzt, liegt auch eine motorische Ablenkung vor. Das Schreiben einer Kurznachricht führt zusätzlich dazu, dass der Blick von der Straße abgewandt wird. Gerade Fußgänger wiegen sich aufgrund ihrer geringen Geschwindigkeit in Sicherheit – eine trügerische Annahme. Wird beispielsweise ein querendes Auto oder eine Ampel übersehen, kann es zu schwersten Unfällen kommen. Auch die durch das Telefonat ausgelösten Emotionen können gefährlich werden. Selbst eine positive Nachricht kann unsere Risikobereitschaft erhöhen.
© Polizei RLP
Pokemon go
Innerhalb kürzester Zeit wurde das „mobile game“ Pokémon Go hunderttausende Male heruntergeladen.
Verkehrsgefahren ergeben sich daraus, dass Fußgänger mit dem Blick auf das Mobiltelefon unachtsam die Straße betreten, oder Radfahrer mit dem Mobiltelefon in der Hand auf der Suche nach dem nächsten Pokémon ohne aufzupassen durch die Stadt fahren. In diesem Zusammenhang kam es auch schon zu Verkehrsunfällen, wobei die Nutzung von Mobiltelefonen beim Führen von Kraftfahrzeugen unabhängig der Intension immer ein großes Risiko darstellt. Insbesondere auch das unvorhersehbare „Zick-Zack-Laufen“ der Spieler stellt eine nicht unerhebliche Gefahr im Straßenverkehr dar, da Fußgänger durch andere Verkehrsteilnehmer schwerer einzuschätzen sind.
Navigations- und Kommunikationssysteme
Wo früher das Autoradio seinen Platz hatte, steckt heute meist ein leistungsfähiger Bordcomputer nebst Entertainment- und Kommunikationsfunktion. Die immer zahlreicher werdenden Funktionen haben dazu geführt, dass viele Funktionen nicht mehr mittels eines Druckknopfes zu erreichen, sondern nur mittels Touchdisplay oder Eingabegerät, z.B. iDrive, in einer Menüstruktur aufzurufen sind. Der Blick muss für die Bedienung zwangsläufig von der Straße abgewandt werden. Die Folge kann eine mentale, motorische und visuelle Ablenkung sein. Laut der Unfallforschung der Versicherer ist, auch dank der Bemühungen der Autohersteller, die Mensch-Maschine-Schnittstelle zu optimieren, die Ablenkung durch integrierte Infotainmentsysteme deutlich geringer als beispielsweise durch ein Smartphone, das nicht eingebunden ist.
Laut einer Untersuchung des ACE lenkt die Eingabe einer Adresse in das Navigationssystem den Fahrer durchschnittlich 78 Sekunden ab. Bei 50 km/h wäre der Fahrer über eine Strecke von ca. 0,7 km abgelenkt. Mit Richtgeschwindigkeit von 130 km/h auf der Autobahn wäre der Fahrer bereits über 2,8 km nicht voll konzentriert beim Autofahren. Was bei einer solch langen Strecke alles passieren kann, muss nicht weiter ausgeführt werden. Bereits das Übersehen eines Stauendes kann fatale Folgen haben. Das Navigationsgerät sollte unbedingt vor Fahrtantritt programmiert werden. Achtung: Wer das Handy zum Navigieren nutzt, darf dieses aufgrund des Handyverbotes auch zu diesem Zweck während der Fahrt nicht in die Hand nehmen. Richtig angewendet kann ein Navigationsgerät die Ablenkung sogar verringern. Das Lesen von Straßennamen wird damit ebenso überflüssig, wie das gefährliche Studieren einer Straßenkarte auf dem Beifahrersitz.
Alltagshandlungen und Musik
Musikhören kann uns bei allen Arten der Fortbewegung ablenken. Je nach Lautstärke beeinträchtigt uns Musik in der Wahrnehmung der Verkehrsgeräusche. Auch wenn die meisten Informationen über das Auge wahrgenommen werden, sollte die Bedeutung des Gehörs für eine sichere Fortbewegung nicht unterschätzt werden. Ist die Musik beispielsweise so laut wie ein mit 50 km/h vorbeifahrendes Auto, benötigt der Musikhörer fast die doppelte Zeit zum Reagieren auf unvorhergesehene Ereignisse. Insbesondere leise Verkehrsteilnehmer, wie Fahrradfahrer oder Elektroautos, können bereits bei leiser Musik überhört werden. Die Straßenverkehrsordnung verbietet die Beeinträchtigung des Gehörs.
Doch nicht nur die Lautstärke ist entscheidend für den Grad der Ablenkung. Ein spannender Krimi als Hörbuch kann trotz seiner gemäßigten Lautstärke mehr ablenken, als beispielsweise Klassik- oder Jazz-Musik. Auf unsere Emotionen hat Musik einen starken Einfluss. Sie kann vorhandene Emotionen verstärken oder abschwächen. Generell negativ ist Musik damit nicht. In der richtigen Lautstärke die passende Musik zu hören, kann uns positiv beeinflussen. Das Schwierige dabei ist jedoch, dies vor Fahrtantritt zu erkennen. Indirekt kann die Musik auch dadurch ablenken, dass wir im Auto CDs suchen oder auf das Display des Autoradios schauen. Gleiches gilt für die meisten Alltagshandlungen, die nebenher hinter dem Steuer, auf dem Fahrrad oder beim zu Fuß gehen erledigt werden. Dies fängt beim Anzünden der Zigarette an und endet beim Bedienen des Laptops auf dem Beifahrersitz, Schminken oder Essen.
Gruppenfahrten und Mitfahrende
Das Phänomen der Gruppenfahrten betrifft primär Motorrad- und Fahrradfahrer. In der Regel wird der Sicherheitsabstand unterschritten und dadurch die Fehlertoleranz erheblich reduziert. Bereits ein kurzer Blick zu Mitfahrenden genügt, um das Bremsen der Vorausfahrenden zu übersehen. Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe verführt schnell dazu, eine Ampel selbst dann bei Gelb zu überqueren, wenn ein sicheres Bremsen noch möglich gewesen wäre. Interne Rennen, Überholmanöver oder das Auseinanderreißen der Gruppe erhöhen den Stress und können zu einer mentalen Ablenkung werden.
Auch Beifahrer im Auto oder Kinder auf dem Fahrradsitz können schnell zu einer Ablenkung während der Fahrt werden. Auf emotionale Streitgespräche sollte während der Fahrt ebenfalls verzichtet werden. Emotionale Reaktionen können zu einer mentalen und wilde Gestik zu einer motorischen Ablenkung führen. Andererseits kann ein aktiver Beifahrer den Fahrer beispielsweise bei der Navigation unterstützen. Auch gegen ein ruhiges, sachliches Gespräch ist nicht vieleinzuwenden. Bei kritischen Fahrsituationen wird dies ohnehin meist vorübergehend eingestellt und nach Bewältigung der Fahrsituation wieder aufgegriffen.
Ablenkung in Verkehrssicherheitsprogrammen
In der Halbzeitbilanz der Verkehrssicherheitsprogramme werden als Handlungsschwerpunkte die Bereiche der Landstraßen, bei denen ein besonderer Fokus auf die Nutzerinnen und Nutzer von Pkw und Motorrad gelegt wird, sowie bei Innerortsstraßen zum Schutz von Fußgänger und Radfahrern genannt.
Das Thema Ablenkung im Straßenverkehr wird als ein wichtiges Themenfeld der nächsten Jahre gesehen. Unaufmerksamkeit durch Nebentätigkeiten während der Fahrt, wie das Bedienen des Navigationsgerätes oder der Blick auf das Handy, spielen zunehmend eine Rolle bei Unfällen. Pkw-, Motorrad- und Fahrradfahrer sollen daher ebenso wie Fußgänger auf die Gefahren von Ablenkung sensibilisiert werden. Im Jahr 2016 liegt deshalb bei der Umsetzung von Aktionen durch Kooperationspartner in der Verkehrssicherheitsarbeit ein Schwerpunkt auf dem Thema Ablenkung.
Bei den Verkehrssicherheitstagen kann das Thema Ablenkung auf vielfältige Weise präsentiert werden. Neben der Beratung am Informationsstand eignet sich der Brems- und Fahrsimulator und der Bremswegteppich besonders, um das Thema Ablenkung praktisch erlebbar zu machen. So können die Nutzerinnen und Nutzer beispielsweise aufgefordert werden, während der Nutzung eines Simulators eine Textnachricht zu schreiben oder mit ihrem Handy auf Zuruf des Verkehrssicherheitsberaters Rechenaufgaben zu lösen. Aus dem Erlebten bieten sich gute Anknüpfungspunkte für Gespräche zu den Gefahren der Ablenkung im Straßenverkehr. Die Benutzung von Smartphones ist eine extreme Gefahr für unsere moderne Mobilität und wird in den nächsten Jahren noch auffälliger werden der energisch und präventiv entgegnet werden sollte.